Im
Januar 2012 veröffentlichte ein junger Mann aus den USA ein ein
kurzes youtube-video, dass in kürzester Zeit um die gesamte
(christliche) Welt ging. In einem spoken word Gedicht von knapp 4
Minuten Laufzeit erklärt Jefferson Bethke, wieso Religion falsch und
zerstörerisch ist, während Jesus das einzige ist, worauf es
ankommt. Bethkes Video trug den reißerischen Titel “Why I hate
Religion, But Love Jesus”. Der folgende Text hatte den Arbeitstitel
“Why this is (almost) complete bullshit”.
Als
jemand der früher selber die Begriffe “Jesus” und “Religion”
in Gegensatzpaare umgewandelt hat, um sich hinter dieser absurden
Trennung überlegen, vor den Angriffen der Religionskritiker sicher
und voll
anti-Establishment zu
fühlen, hat dieser Text ein wenig von Vergangenheitsbewältigung.
Denn mit Alter wächst die Weisheit (sprach der 22jährige) und wo
früher die Welt monochrom daherkam, scheint sie heute von mehreren
Grauschattierungen durchsetzt.
Viele
Evangelikale skizzieren unter dem Begriff “Religion” das Bild
eines Feindes, der immer wieder versucht die reine
Lehre Jesu zu
entstellen oder sogar für finstere Zwecke zu missbrauchen. Die
evangelikale Schwarmintelligenz, im Selbstverständnis treu dem Erbe
Luthers folgend, entdeckt diesen Feind meist in den Gewändern der
katholischen Kirche, welche sie dann auch in allen Variationen von
Irrlehrer
bis hin zur
Verkörperung
des Antichristen beschimpft.
Die katholische Kirche (= Religion)¹ ist irgendwie doof. Was an ihr
so doof ist, wissen wir nicht genau, aber irgendwas muss es schon
sein. Schliesslich hatte Luther 95 Thesen (von denen wir nicht eine
aus dem Gedächtnis aufsagen könnten).
Das
Verständnis der Evangelikalen davon, was man unter “Religion”
jetzt eigentlich meint, lässt leider zu wünschen übrig. Meist wird
es mit einer vagen Andeutung von Werksgerechtigkeit
abgetan,
womit letztlich gemeint ist, dass Religion einfach nur bedeutet, dass
man als Gläubiger einen Katalog von Geboten und Verboten abarbeitet
um schliesslich in den Himmel zu kommen und nicht bestraft zu werden.
Religion
sei der Versuch des Menschen, zu Gott zu gelangen.
Demgegenüber
steht das eigene, ebenso vage Verständnis von der
Glaubensgerechtigkeit,
die
Behauptung, dass man eine persönliche
Beziehung zu Jesus, dem
entgegenkommenden Gott bräuchte, um erlöst zu werden.
Allein der
Glaube™
rettet².
Doch
leider ist die künstliche Gegenüberstellung von Religion
und Jesus,
von wahrem
Glaube™
und
katholischer
Kirche mit
einem furchtbaren Verlust verbunden. Sie zersetzt ihre eigenen
Wurzeln, verliert den Halt in der Welt, verliert schliesslich den
Bezug zu jenen armen Schäffchen und Sündern, die sie zu retten aus
ist.
An
dieser Stelle sollte ich wahrscheinlich einen alternativen
Religionsbegriff vorschlagen, um meinen Punkt zu verdeutlichen.
Religion ist erstmal nichts gutes und nichts schlechtes. Religion ist
ein gemeinschaftlich gehaltener Glaube der auf etwas Heiliges oder
Transzendentes, z.B. Gott, Bezug nimmt. Ein solcher Glaube bringt
meistens eine Art Glaubenssystem mit sich, welches versucht den
Glauben in Einklag mit der wahrgenommen Welt zu bringen (denn was
bringt ein Glaube, der für mich keinen Sinn ergibt und keine
praktische Anwendung hat?). Doch unsere Welt verändert sich. Mit ihr
verändern sich unsere Sorgen und Hoffnungen, unser Wissen. Es
stellen sich neue Fragen, auf die das bisher genutzte Glaubenssystem
keine wirkliche Antwort zu geben vermag. Ob Kernkraft gut oder
schlecht ist, ist sicherlich keine Frage mit der Mose oder Jesus
jemals gerungen haben. Aus diesen neuen Fragen wachsen neue Versuche
antworten zu geben. Und ehe wir uns versehen hat unser Glauben eine
Entwicklung, ein Geschichte. Soll ich es sagen? Eine Tradition.
Was
ist nun die katholische
Kirche?
Sie ist in gewisser Weise eine Institution, die das Erbe jener
Menschen bewahrt, die mit Glaubensfragen gerungen haben und versucht
haben neue Antworten zu finden. Katholisch
bedeutet
einfach nur Allumfassend. Die katholische
Kirche ist
die allumfassende Kirche, die von Jesus gegründete Gemeinschaft
aller Christen.
Als
Christen sind wir auf Religion
angewiesen.
Wir brauchen eine Institution, die das Andenken unser Glaubensväter
und -mütter bewahrt, deren Fragen und Ringen mit dem Glauben immer
wieder neues Licht auf unseren eigenen Glauben wirft. Was wären wir
ohne eine Kirche, die unsere wichtigsten heiligen Texte aufbewahrt?
Ohne eine Religion, die sein Erbe, sein Leben und Sterben in ihrer
kollektiven Erinnerung bewahrt, wäre Jesus grundlos gestorben und
auf ewig vergessen worden.Doch
natürlich birgt die Kirche Gefahren. Wie alle Institutionen ist sie
anfällig für Verknöcherung. Hierarchien machen träge und steif.
Die Kirche wird alt und senil.
An
diesem Punkt ist der Schlachtruf der Evangelikalen “Jesus statt
Religion” goldrichtig. In der Figur Jesu beherbergt die Kirche eine
explosive Kraft, die immer wieder die alten Knochen wachrüttelt, sie
auf ihren revolutionären Kern hinweist, und die Türen immer wieder
auf’s neue aufschlägt. Eine solche Kirche bewahrt und verändert
zugleich, erinnert sich des Gewesen und zieht aus ihm Mut für das
Kommende, in welcher Form es sich auch präsentiert.
Ich
wünschte so sehr, dass der vorrangehende Absatz auch tatsächlich
mit der Realität übereinstimmen würde. Leider tut er dies in den
seltensten Fällen. Denn anstatt eine explosive Kraft freizulassen
und die Kirche aufzuwecken, ist der Schlachtruf der Evangelikalen
kein Schlachtruf für etwas neues, sondern bloß für eine
konservative, eigene Orthodoxie, die sich der Kirche gegenüberstellt.
Denn
die Evangelikalen haben keine Geschichte. Zumindest wissen sie von
ihr nicht. Dadurch, dass sie ihren Wurzeln und ihre Tradition
vergessen haben, haben sie den Blick dafür verloren, dass sich ihr
eigenes Glaubenssystem zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten
Ort entwickelt hat. Stellt euch einen Ast vor, der auf einem
Baumstumpf liegt. Er wähnt sich näher an der Wurzel, aber seine
Verbindung zu ihr hat er längst verloren. Mit ihrer eigenen
Tradition zu ringen, sie zu bewahren, aus ihr zu lernen, all dies
haben die Evangelikalen nie gelernt. Der evangelikale Glaube ist
der Meister,
der vom Himmel gefallen ist.
Aber
die Evangelikalen haben doch Jesus? Und darauf kommt es doch an?
Jain. Als ein Glauben ohne eigene Geschichte hat der evangelikale
Glaube Jesus letztendlich nicht. Alles was ihm bleibt ist ein
Jesusbild, von dem sie nicht wissen, dass es zu einem bestimmten
Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort geprägt wurde. Auch Jesus schwebt
nun, in Leichenstarre, von aller explosiven Kraft geraubt, in einem
luftleeren Raum.
Mit
dem Vergessen der eigenen Tradition und dem Abkappen der eigenen
Wurzeln verliert der evangelikale Glaube seinen Halt. Er kann sich
nicht mehr entwickeln, keine Frucht mehr tragen. Ihm fehlen die
Mittel um die Welt überhaupt noch verstehen zu können, die sich vor
seinen eigenen Augen so rasendschnell entwickelt. Er schottet sich ab
von dieser Welt, die er nicht versteht. Aus Gottes Erlösungsplan,
der die Welt verändern soll, wird ein Evakuierungsplan. Wenn der
Evangelikale davon spricht, dass durch Jesus der alte
Bund Geschichte
sei, so meint er damit nicht, dass nun etwas neues mit Gottes
Schöpfung geschieht, sondern dass die Vernichtung der Welt mit einer
riesigen Flut nun wieder in Gottes Repertoire aufgenommen wurde. Die
Gemeinden sind keine Saatkörner mehr, die neues Leben in die
Schöpfung hauchen sollen, nein, sie sind bloß noch
Franchise-Unternehmen der Arche Noah.
Mit
dem Vergessen all jener Menschen, die den Glauben geformt haben,
vergisst der evangelikale Glaube schliesslich auch den Menschen
überhaupt. Die Vielfalt in der eigenen Geschichte wird ausgeblendet,
und mit ihr verliert sich auch die Vielfalt in den Gemeinden. Nicht
länger ist der Andersgläubige erwünscht. Er wird geduldet, aber
nur in Hinblick auf seine baldige Bekehrung zu unserer Orthodoxie.
Was an ihm anders ist, wird ausgeblendet oder gehasst, aufjedenfall
konfrontiert es uns nicht mehr, birgt keine Möglichkeit mehr uns aus
unserem dogmatischen Schlummer aufzurütteln.
Hier
könnte ich endlos weitere Beispiele aufzählen, die die Wurzel allen
Übels evangelikaler Herkunft illustrieren, aber dies wäre
bestenfalls langweilig und schlimmstenfalls furchtbar deprimierend.
Alternativ möchte ich kurz versuchen das Grundproblem knapp zu
formulieren und einige Gegenvorschläge zu skizzieren.
Die
Evangelikalen machen sich zweier der ältesten Ketzereien (in
abgewandelter Form) schuldig:
- Marcionismus. Marcion lebte im ersten Jahrhundert nach Christus und vertrat die Ansicht, dass der Gott der Juden ein falscher Gott sei, der mit dem Gott der Christen nichts gemein habe. Aus diesem Grund verstieß er das Alte Testament als Irrlehre. Mit anderen Worten, er verdammte die Geschichte aus der heraus sein eigener Glaube erwuchs. Die Verdammung der Kirche, wie sie bei den Evangelikalen auftritt schlägt in die exakt gleiche Kerbe.
- Tatians Diatessaron. Tatian lebte im zweiten Jahrhundert nach Christus und versuchte aus den vier Evangelien ein einheitliches Evangelium zu schreiben (das Diatessaron), dass alle Widersprüche der ursprünglichen Texte harmonisch aufhob. Auch dies wurde (zurecht) als ketzerisch eingestuft. Diese Aufhebung von Widersprüchen ist eine zweite Ursünde der Evangelikalen. Die wundervolle Fruchtbarkeit der Widersprüche, wie sie die Geschichte zwangsläufig in sich trägt, wird für eine erlogene Homogenität des Glaubens eingetauscht. Dadurch, dass die Geschichte unterdrückt wird, wird der Dialog unterdrückt, und statt vielen Stimmen, bleibt nur noch eine einzige monotone Leier übrig, die nicht herausfordert, steril ist.
Die
Alternative zum beschriebenen Problem liegt auf der Hand. Den Glauben
re-historisieren. Die Geschichte des eigenen Glaubens kennenlernen
und aus ihr lernen. Doch wo soll man anfangen ? Es gibt immerhin
ganze 2000 Jahre Geschichte des Christentums neu zu entdecken.
Der
einfachste Schritt wäre, dass man sich einen der am häufigsten von
den Evangelikalen verteufelten Aspekte der katholischen Kirche ganz
dreist zu eigen macht: Die Heiligenverehrung. Von allem Spöckes
befreit, steckt in ihrem Kern eine wundervolle Idee, die es wert ist,
gerettet zu werden. Sich der Glaubensvorbilder zu erinnern, aus ihren
Geschichten zu lernen. Dies scheint mir die simpelste Methode um
wieder ein Gespür dafür zu erlangen, dass man Teile eines
fliessenden geschichtlichen Stromes ist. Also liebe Evangelikalen:
Wenn euch wieder am Wegesrand eine Heiligenfigur begegnet, wendet
euch nicht angewidert ab, sondern geht auf sie zu und begegnet dem
Menschen, der dort präsentiert wird. Wer war er? Was hat er
geglaubt? Wo und wann hat er gelebt, wogegen und wofür hat er
gekämpft? Wieso sollte er nicht in Vergessenheit geraten? Wem keine
Heiligenfiguren begegnen, der schaue einfach in den aktuellen
Heiligenkalender und ziehe ein Lexikon zurate.
Es
gilt sich der festen Institutionen zu bedienen, ihren Kern zu finden,
und ihm zu neuem Leben verhelfen. Dies hat Jesus vor 2000 Jahren
getan, als er die verknöcherten religiösen Insitutionen radikal neu
deutete. Es wird gerne dahergeplappert, dass Jesus nicht kam um eine
neue Religion zu gründen. Korrekt. Sondern er war Teil einer
Religion und atmete ihr neues Leben ein, ohne sie jemals zu
verlassen, oder sie zu verteufeln. Und als Leute die vorgeben ihm
nachzufolgen, sollten wir es ihm gleichtun. Auch hier hilft die
Analogie, dass wir “ein Leib” sein sollen, denn jeder Körper hat
verschiedene Funktionen, und kein Körperteil kann ohne das andere.
Die festen Knochen können sich nicht aus eigener Kraft bewegen. Und
die Muskeln brauchen eine feste Grundlage, denn sonst sind sie nur
unnütze Fleischklumpen. Nur wenn beides zusammenwirkt, kann
Veränderung folgen. preguntando
caminamos. Fragend
gehen wir vorran.
PS:
Eine Leseempfehlung. Diana
Butler Bass - A People's History of Christianity
¹ ich benutze die Begriffe Religion und katholische Kirche in diesem Artikel austauschbar, entsprechend der groben Gleichsetzung dieser Begriffe im evangelikalen Gebrauch. Ebenso Jesus und wahrer Glaube. Dass diese plumple Gleichsetzung problematisch ist, ist letzten Endes Inhalt dieses Artikels.
²
wobei man jetzt anmerken könnte, dass die Aktivität des “Glaubens”
(übersetzt als “fürwahrhalten”) in einem atheistischen
Zeitalter eine ziemlich harte Arbeit ist, und eigentlich auch unter
die Kategorie der Werksgerechtigkeit
fallen
könnte.
TL;DR: Religion und Glaube brauchen einander und leben in einem dialektischen Verhältnis. Die Religion bewahrt das Erbe, der Glaube treibt es vorran. Religion ohne Glaube verknöchert zu einer steifen Institution. Der Glaube ohne Religion, d.h. ohne Wurzel, schwebt kastriert in einem luftleeren Raum.
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