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28.04.2013

Mehr Religion, weniger Jesus: Eine Polemik.

Im Januar 2012 veröffentlichte ein junger Mann aus den USA ein ein kurzes youtube-video, dass in kürzester Zeit um die gesamte (christliche) Welt ging. In einem spoken word Gedicht von knapp 4 Minuten Laufzeit erklärt Jefferson Bethke, wieso Religion falsch und zerstörerisch ist, während Jesus das einzige ist, worauf es ankommt. Bethkes Video trug den reißerischen Titel “Why I hate Religion, But Love Jesus”. Der folgende Text hatte den Arbeitstitel “Why this is (almost) complete bullshit”.
Als jemand der früher selber die Begriffe “Jesus” und “Religion” in Gegensatzpaare umgewandelt hat, um sich hinter dieser absurden Trennung überlegen, vor den Angriffen der Religionskritiker sicher und voll anti-Establishment zu fühlen, hat dieser Text ein wenig von Vergangenheitsbewältigung. Denn mit Alter wächst die Weisheit (sprach der 22jährige) und wo früher die Welt monochrom daherkam, scheint sie heute von mehreren Grauschattierungen durchsetzt.
Viele Evangelikale skizzieren unter dem Begriff “Religion” das Bild eines Feindes, der immer wieder versucht die reine Lehre Jesu zu entstellen oder sogar für finstere Zwecke zu missbrauchen. Die evangelikale Schwarmintelligenz, im Selbstverständnis treu dem Erbe Luthers folgend, entdeckt diesen Feind meist in den Gewändern der katholischen Kirche, welche sie dann auch in allen Variationen von Irrlehrer bis hin zur Verkörperung des Antichristen beschimpft. Die katholische Kirche (= Religion)¹ ist irgendwie doof. Was an ihr so doof ist, wissen wir nicht genau, aber irgendwas muss es schon sein. Schliesslich hatte Luther 95 Thesen (von denen wir nicht eine aus dem Gedächtnis aufsagen könnten).
Das Verständnis der Evangelikalen davon, was man unter “Religion” jetzt eigentlich meint, lässt leider zu wünschen übrig. Meist wird es mit einer vagen Andeutung von Werksgerechtigkeit abgetan, womit letztlich gemeint ist, dass Religion einfach nur bedeutet, dass man als Gläubiger einen Katalog von Geboten und Verboten abarbeitet um schliesslich in den Himmel zu kommen und nicht bestraft zu werden. Religion sei der Versuch des Menschen, zu Gott zu gelangen. Demgegenüber steht das eigene, ebenso vage Verständnis von der Glaubensgerechtigkeit, die Behauptung, dass man eine persönliche Beziehung zu Jesus, dem entgegenkommenden Gott bräuchte, um erlöst zu werden. Allein der Glaube rettet².
Doch leider ist die künstliche Gegenüberstellung von Religion und Jesus, von wahrem Glaube und katholischer Kirche mit einem furchtbaren Verlust verbunden. Sie zersetzt ihre eigenen Wurzeln, verliert den Halt in der Welt, verliert schliesslich den Bezug zu jenen armen Schäffchen und Sündern, die sie zu retten aus ist.
An dieser Stelle sollte ich wahrscheinlich einen alternativen Religionsbegriff vorschlagen, um meinen Punkt zu verdeutlichen. Religion ist erstmal nichts gutes und nichts schlechtes. Religion ist ein gemeinschaftlich gehaltener Glaube der auf etwas Heiliges oder Transzendentes, z.B. Gott, Bezug nimmt. Ein solcher Glaube bringt meistens eine Art Glaubenssystem mit sich, welches versucht den Glauben in Einklag mit der wahrgenommen Welt zu bringen (denn was bringt ein Glaube, der für mich keinen Sinn ergibt und keine praktische Anwendung hat?). Doch unsere Welt verändert sich. Mit ihr verändern sich unsere Sorgen und Hoffnungen, unser Wissen. Es stellen sich neue Fragen, auf die das bisher genutzte Glaubenssystem keine wirkliche Antwort zu geben vermag. Ob Kernkraft gut oder schlecht ist, ist sicherlich keine Frage mit der Mose oder Jesus jemals gerungen haben. Aus diesen neuen Fragen wachsen neue Versuche antworten zu geben. Und ehe wir uns versehen hat unser Glauben eine Entwicklung, ein Geschichte. Soll ich es sagen? Eine Tradition.
Was ist nun die katholische Kirche? Sie ist in gewisser Weise eine Institution, die das Erbe jener Menschen bewahrt, die mit Glaubensfragen gerungen haben und versucht haben neue Antworten zu finden. Katholisch bedeutet einfach nur Allumfassend. Die katholische Kirche ist die allumfassende Kirche, die von Jesus gegründete Gemeinschaft aller Christen.
Als Christen sind wir auf Religion angewiesen. Wir brauchen eine Institution, die das Andenken unser Glaubensväter und -mütter bewahrt, deren Fragen und Ringen mit dem Glauben immer wieder neues Licht auf unseren eigenen Glauben wirft. Was wären wir ohne eine Kirche, die unsere wichtigsten heiligen Texte aufbewahrt? Ohne eine Religion, die sein Erbe, sein Leben und Sterben in ihrer kollektiven Erinnerung bewahrt, wäre Jesus grundlos gestorben und auf ewig vergessen worden.Doch natürlich birgt die Kirche Gefahren. Wie alle Institutionen ist sie anfällig für Verknöcherung. Hierarchien machen träge und steif. Die Kirche wird alt und senil.
An diesem Punkt ist der Schlachtruf der Evangelikalen “Jesus statt Religion” goldrichtig. In der Figur Jesu beherbergt die Kirche eine explosive Kraft, die immer wieder die alten Knochen wachrüttelt, sie auf ihren revolutionären Kern hinweist, und die Türen immer wieder auf’s neue aufschlägt. Eine solche Kirche bewahrt und verändert zugleich, erinnert sich des Gewesen und zieht aus ihm Mut für das Kommende, in welcher Form es sich auch präsentiert.
Ich wünschte so sehr, dass der vorrangehende Absatz auch tatsächlich mit der Realität übereinstimmen würde. Leider tut er dies in den seltensten Fällen. Denn anstatt eine explosive Kraft freizulassen und die Kirche aufzuwecken, ist der Schlachtruf der Evangelikalen kein Schlachtruf für etwas neues, sondern bloß für eine konservative, eigene Orthodoxie, die sich der Kirche gegenüberstellt.
Denn die Evangelikalen haben keine Geschichte. Zumindest wissen sie von ihr nicht. Dadurch, dass sie ihren Wurzeln und ihre Tradition vergessen haben, haben sie den Blick dafür verloren, dass sich ihr eigenes Glaubenssystem zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort entwickelt hat. Stellt euch einen Ast vor, der auf einem Baumstumpf liegt. Er wähnt sich näher an der Wurzel, aber seine Verbindung zu ihr hat er längst verloren. Mit ihrer eigenen Tradition zu ringen, sie zu bewahren, aus ihr zu lernen, all dies haben die Evangelikalen nie gelernt. Der evangelikale Glaube ist der Meister, der vom Himmel gefallen ist.
Aber die Evangelikalen haben doch Jesus? Und darauf kommt es doch an? Jain. Als ein Glauben ohne eigene Geschichte hat der evangelikale Glaube Jesus letztendlich nicht. Alles was ihm bleibt ist ein Jesusbild, von dem sie nicht wissen, dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort geprägt wurde. Auch Jesus schwebt nun, in Leichenstarre, von aller explosiven Kraft geraubt, in einem luftleeren Raum.
Mit dem Vergessen der eigenen Tradition und dem Abkappen der eigenen Wurzeln verliert der evangelikale Glaube seinen Halt. Er kann sich nicht mehr entwickeln, keine Frucht mehr tragen. Ihm fehlen die Mittel um die Welt überhaupt noch verstehen zu können, die sich vor seinen eigenen Augen so rasendschnell entwickelt. Er schottet sich ab von dieser Welt, die er nicht versteht. Aus Gottes Erlösungsplan, der die Welt verändern soll, wird ein Evakuierungsplan. Wenn der Evangelikale davon spricht, dass durch Jesus der alte Bund Geschichte sei, so meint er damit nicht, dass nun etwas neues mit Gottes Schöpfung geschieht, sondern dass die Vernichtung der Welt mit einer riesigen Flut nun wieder in Gottes Repertoire aufgenommen wurde. Die Gemeinden sind keine Saatkörner mehr, die neues Leben in die Schöpfung hauchen sollen, nein, sie sind bloß noch Franchise-Unternehmen der Arche Noah.
Mit dem Vergessen all jener Menschen, die den Glauben geformt haben, vergisst der evangelikale Glaube schliesslich auch den Menschen überhaupt. Die Vielfalt in der eigenen Geschichte wird ausgeblendet, und mit ihr verliert sich auch die Vielfalt in den Gemeinden. Nicht länger ist der Andersgläubige erwünscht. Er wird geduldet, aber nur in Hinblick auf seine baldige Bekehrung zu unserer Orthodoxie. Was an ihm anders ist, wird ausgeblendet oder gehasst, aufjedenfall konfrontiert es uns nicht mehr, birgt keine Möglichkeit mehr uns aus unserem dogmatischen Schlummer aufzurütteln.
Hier könnte ich endlos weitere Beispiele aufzählen, die die Wurzel allen Übels evangelikaler Herkunft illustrieren, aber dies wäre bestenfalls langweilig und schlimmstenfalls furchtbar deprimierend. Alternativ möchte ich kurz versuchen das Grundproblem knapp zu formulieren und einige Gegenvorschläge zu skizzieren.
Die Evangelikalen machen sich zweier der ältesten Ketzereien (in abgewandelter Form) schuldig:
  1. Marcionismus. Marcion lebte im ersten Jahrhundert nach Christus und vertrat die Ansicht, dass der Gott der Juden ein falscher Gott sei, der mit dem Gott der Christen nichts gemein habe. Aus diesem Grund verstieß er das Alte Testament als Irrlehre. Mit anderen Worten, er verdammte die Geschichte aus der heraus sein eigener Glaube erwuchs. Die Verdammung der Kirche, wie sie bei den Evangelikalen auftritt schlägt in die exakt gleiche Kerbe.
  2. Tatians Diatessaron. Tatian lebte im zweiten Jahrhundert nach Christus und versuchte aus den vier Evangelien ein einheitliches Evangelium zu schreiben (das Diatessaron), dass alle Widersprüche der ursprünglichen Texte harmonisch aufhob. Auch dies wurde (zurecht) als ketzerisch eingestuft. Diese Aufhebung von Widersprüchen ist eine zweite Ursünde der Evangelikalen. Die wundervolle Fruchtbarkeit der Widersprüche, wie sie die Geschichte zwangsläufig in sich trägt, wird für eine erlogene Homogenität des Glaubens eingetauscht. Dadurch, dass die Geschichte unterdrückt wird, wird der Dialog unterdrückt, und statt vielen Stimmen, bleibt nur noch eine einzige monotone Leier übrig, die nicht herausfordert, steril ist.
Die Alternative zum beschriebenen Problem liegt auf der Hand. Den Glauben re-historisieren. Die Geschichte des eigenen Glaubens kennenlernen und aus ihr lernen. Doch wo soll man anfangen ? Es gibt immerhin ganze 2000 Jahre Geschichte des Christentums neu zu entdecken.
Der einfachste Schritt wäre, dass man sich einen der am häufigsten von den Evangelikalen verteufelten Aspekte der katholischen Kirche ganz dreist zu eigen macht: Die Heiligenverehrung. Von allem Spöckes befreit, steckt in ihrem Kern eine wundervolle Idee, die es wert ist, gerettet zu werden. Sich der Glaubensvorbilder zu erinnern, aus ihren Geschichten zu lernen. Dies scheint mir die simpelste Methode um wieder ein Gespür dafür zu erlangen, dass man Teile eines fliessenden geschichtlichen Stromes ist. Also liebe Evangelikalen: Wenn euch wieder am Wegesrand eine Heiligenfigur begegnet, wendet euch nicht angewidert ab, sondern geht auf sie zu und begegnet dem Menschen, der dort präsentiert wird. Wer war er? Was hat er geglaubt? Wo und wann hat er gelebt, wogegen und wofür hat er gekämpft? Wieso sollte er nicht in Vergessenheit geraten? Wem keine Heiligenfiguren begegnen, der schaue einfach in den aktuellen Heiligenkalender und ziehe ein Lexikon zurate.
Es gilt sich der festen Institutionen zu bedienen, ihren Kern zu finden, und ihm zu neuem Leben verhelfen. Dies hat Jesus vor 2000 Jahren getan, als er die verknöcherten religiösen Insitutionen radikal neu deutete. Es wird gerne dahergeplappert, dass Jesus nicht kam um eine neue Religion zu gründen. Korrekt. Sondern er war Teil einer Religion und atmete ihr neues Leben ein, ohne sie jemals zu verlassen, oder sie zu verteufeln. Und als Leute die vorgeben ihm nachzufolgen, sollten wir es ihm gleichtun. Auch hier hilft die Analogie, dass wir “ein Leib” sein sollen, denn jeder Körper hat verschiedene Funktionen, und kein Körperteil kann ohne das andere. Die festen Knochen können sich nicht aus eigener Kraft bewegen. Und die Muskeln brauchen eine feste Grundlage, denn sonst sind sie nur unnütze Fleischklumpen. Nur wenn beides zusammenwirkt, kann Veränderung folgen. preguntando caminamos. Fragend gehen wir vorran.


¹ ich benutze die Begriffe Religion und katholische Kirche in diesem Artikel austauschbar, entsprechend der groben Gleichsetzung dieser Begriffe im evangelikalen Gebrauch. Ebenso Jesus und wahrer Glaube. Dass diese plumple Gleichsetzung problematisch ist, ist letzten Endes Inhalt dieses Artikels.
² wobei man jetzt anmerken könnte, dass die Aktivität des “Glaubens” (übersetzt als “fürwahrhalten”) in einem atheistischen Zeitalter eine ziemlich harte Arbeit ist, und eigentlich auch unter die Kategorie der Werksgerechtigkeit fallen könnte.

TL;DR: Religion und Glaube brauchen einander und leben in einem dialektischen Verhältnis. Die Religion bewahrt das Erbe, der Glaube treibt es vorran. Religion ohne Glaube verknöchert zu einer steifen Institution. Der Glaube ohne Religion, d.h. ohne Wurzel, schwebt kastriert in einem luftleeren Raum.


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